Grit Ruhland zeigt Rückstände, Zeichen, Ränder in ihrer doppelten Rolle: Einerseits verweisen sie auf etwas Dahinterliegendes, zugleich lassen sie sich aber auch als das lesen, was sie selbst sind: Ein Zeichen, getrennt von seiner Bedeutung, ist wie eine Hieroglyphe, die die Vorstellungskraft anregt. Ein Rückstand ist nicht nur Rest von etwas, sondern als Material auch Anfang für etwas Neues. Jeder Rand von etwas ist doch auch die Mitte von sich selbst. Mit diesen Doppelfunktionen arbeitet die Ausstellung: Große Teile sind Fundstücke oder wiederverwendete Materialien, die Geschichte, Geschichten, Schichten in sich tragen. Diese Schichten interessieren Grit Ruhland sowohl in materialer Hinsicht als auch in zeitlicher. Die beiden Räume lassen sich als Ineinandergreifen von Zeit und Raum lesen: Viele Fotos und Objekte verweisen entweder auf den selben Ort zu unterschiedlichen Zeiten oder inhaltlich eng verwandte Orte in (nahezu) gleichzeitigen Aufnahmen.
Dabei ist der vordere, größere Raum gewissermaßen die Projektion einer kleinen Region, der Uranbergbaufolgelandschaft um den ehemaligen Tagebau „Lichtenberg“ bei Ronneburg, ins Große. Die vielschichtige Karte „A Nuclear Marker for Halde Stolzenberg“, entwickelt 2019 für das praktische Forschungsprojekt der Kunstwissenschaftlerin Anna Volkmar an der Universiteit Leiden, die das Statische und Zweidimensionale konventioneller kartographischer Darstellungen aufbricht und in der sich durch Blättern tiefere (ältere) Schichten freilegen lassen, bildet eine Art Übersicht. Die Fotos, Zeichnungen und Objekte sind Ergebnisse von Ruhlands langjähriger Sammel-, Forschungs- und Sichtungsarbeit, die auch das private Umfeld einbezieht: Briefe aus der Anfangszeit des Uranbergbaus, Fotos des Heimatortes Paitzdorf aus Phasen des Nachbergbaus, ein Aufsteller für gesammelte, getrocknete Pflanzen aus alten Backbrettern. Die Gruppe von Astskulpturen in der Raummitte ist eine Versammlung einer Art von Zeigerwesen: Warum gibt es in der Region so viele Erzählungen um dreibeinige Tiere, lange bevor man mit dem Abbau des Uranerzes begann? Und warum stehen sie auf Styroporsockeln? Letzteres wird nur verständlich, wenn man weiß, dass am Rande der ehemaligen Haldenfläche heute eine Styroporfabrik steht, aus der immer wieder Reste in die (sanierte) Landschaft geweht werden. Von solchen teils mehr, teils weniger verborgenen Beziehungen lebt der innere Zusammenhalt der Ausstellung: Kaum ein Bild oder Objekt, das nicht mit mindestens einem anderen korrespondiert, über Raum- und Zeitgrenzen hinweg. Nicht jede dieser Beziehungen muss entschlüsselt werden, um die Zusammenstellung zu verstehen, denn jedes Element ist zugleich ein Gegenstand eigenen Rechts, der den Blick der Künstlerin auf die (Um-)Welt repräsentiert und dazu einlädt, die eigene Perspektive darauf zu finden.
Der zweite, kleinere Raum verfolgt ein komplementäres Konzept zum großen: Hier ist die Vielfalt der Zeigeformen auf eine, die Fotografie, reduziert, doch die Bilder öffnen ein raumzeitliches Portal in die weitere Entfernung: Vom Ort des ersten Nuklearunfalls überhaupt (Leipzig) über das Endlager der DDR (Morsleben), das erste Kernkraftwerk Deutschlands (Rheinsberg) geht es zu drei Orten im heutigen Estland: Den ehemaligen sowjetischen Militärflughafen in Tartu-Raadi, eine ehemalige Lagerstelle für Sprengköpfe in Maramaa sowie die ehemals „verbotene Stadt“ Sillamäe an der Ostsee, in der auch das Uran aus Ronneburg aufbereitet wurde. Den Abschluss bilden Aufnahmen aus dem tschechischen Ralsko. Die Fieldrecordings, die auf dem Abspielgerät am Eingang hörbar sind, dokumentieren diese Orte; das unregelmäßige, unvorhersagbare Knacken des Geigerzählers bildet eine durchgehende akustische Schicht: So schließt sich der Kreis der Ausstellung.
Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und das Forum für zeitgenössische Hybridkultur e.V.