Die Geschichte der Menschheit basiert einzig und allein auf dem Narrativ von Individuen. Ohne individuelle Narrative keine Geschichte. Die künstlerische Signifikanz dieses Grundgedankens lässt sich nach wie vor am Mythos des Menschen als schöpferischen Erschaffer (wie Gott damals) wunderbar ablesen. Es erscheint folgerichtig, dass private Mythologien von den geschichtsbewussten Menschen gehegt und gepflegt werden (darunter bildende Künstlerinnen und Künstler, Celebrities, Top-CEOs). Besonders beliebt ist der Unternehmensgründungsmythos: Jedes große Unternehmen besitzt dies, von Microsoft in der Garage bis Apple in der Garage bis Tesla on top of douchebag mountain. Bildende Künstlerinnen und Künstler haben sich nicht erst seit Joseph Beuys dieser Strategie (im Kampfflugzeug abgeschossen, schwer verletzt, von Tartaren geborgen, in Fett und Filz genesen, transformiert wiederauferstanden – das meiste anscheinend erfunden) bedient, wie bereits die von Harald Szeemann auf der documenta 5 (1972) kuratierte Sektion mit dem Namen Individuelle Mythologien gezeigt hat. Aber worum handelt es sich genau, wenn sich zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler privatmythologisch betätigen? Es ist das bewusste oder unbewusste Erzählen, Verschweigen, Aufbauschen, Kleinmachen, Manipulieren und Instrumentalisieren der eigenen Biographie in Form von Kunstwerken, Performances, Pamphleten, Manifesten, Gedichten, Interviews, Social-Media-Posts, Pressemitteilungen – kurz gesagt, alles was mit der heutigen digitalen Medienlandschaft zu tun hat. Roland Barthes hat in seinem Buch Mythologies (1957) folgende Definition für den Mythos geliefert: „Der Mythos ist ein System der Kommunikation, eine Botschaft. Man ersieht daraus, daß der Mythos kein Objekt, kein Begriff und keine Idee sein kann; er ist eine Weise des Bedeutens, eine Form.“ Es handelt sich also nicht um eine Ideologie, sondern um eine Gestaltveränderung der Wahrheit und im Falle der Privatheit der eigenen Biographie. Nochmal Barthes: „So paradox es scheinen mag, der Mythos verbirgt nichts. Seine Funktion ist es, zu deformieren, nicht verschwinden zu lassen.“
Die bildenden Künstlerinnen und Künstler der vorliegenden Ausstellung tun dies ebenfalls auf eine idiosynkratische Art und Weise und stellen eine besondere, ihnen ureigene Form der Selbst(be)deutung zur Verfügung: Annette Cho wurde als Baby in Kopenhagen adoptiert und arbeitet sich quasi seitdem an dem damit zusammenhängenden Ost-West Gefälle ab, indem sie sich in der hier gezeigten Werkserie an Ölgemälden die Banane als Symbol für die westliche Produkt- und Logistiklogik im wahrsten Sinne des Wortes einverleibt. Dabei hat sich eine unbewusste Reminiszenz an die berühmte Zonen-Gaby offenbart, über die die Künstlerin vorher nichts wusste. Dann wurde ihr das Titanic Titelbild zur Wende gezeigt. Das Ost-West Gefälle existiert also in vielen, geradezu unzähligen parallelen Mikro- und Makro Konstellationen (beispielsweise Süd-Korea – Dänemark oder neue und alte Bundesländer). Adoptivkinder aller Welt verbindet euch. Der US-Amerikanische Musiker Eric D. Clark hat sich 1996 so gut wie unsterblich gemacht, indem er salopp und larifari seinen Text zum Track From Disco to Disco eingesungen und gelallt hat, was charmant und poetisch dahergekommen ist. Die Disco als Symbol für ein hedonistisches Lebensgefühl der ewigen Jugend der Postmoderne. Anything goes – erst recht, wenn man seitdem als DJ und Künstler in Berlin lebt. Die Künstlerin Judith Miriam Escherlor hat in ihrem Werk eine feministische Formensprache und Materialität entwickelt, die in den gezeigten Arbeiten zum Einsatz kommt, wobei dies durch einen suggestiven Sepia Farbton um die Dimension der Geschichte ergänzt wird. Die Romantik, das Drama, die Kindheit, die Klippen und die Karawane sind wie mit einem Brennglas vergrößert zu sehen und erzählen ein privates Familienschicksal.
Die beiden großformatigen Tableaus des Künstlers Thomas Hirschhorn (er hat 2011 den Schweizer Pavillon der Biennale in Venedig bespielt) karikieren die Handy-Display-Ästhetik der zeitgenössischen Influencer-Ökonomie auf eine für den Künstler typisch nonchalante Art – inklusive gleich zweimal aufgeführtem Profilbild im Kreisausschnitt und unerhört vielen Likes. Dabei sind die Themen, die Hirschhorn in diesen Arbeiten sprachlich analysiert der Kunst inhärent und für die Kultur der menschlichen Gesellschaft von hoher Relevanz. Die postmoderne Collage wird wieder humanisiert und der Begriff Precariousness wird kontextualisiert, indem der Künstler konstatiert: die Unsicherheit (Precariousness) steht für den Menschen und das Leben, ganz im Gegensatz zum Ephemeren, was für die Natur und den Tod steht. Das Werk von Anna Kautenburger ist geprägt davon, dass sie seit vielen Jahren ihre eigenen Träume zeichnerisch erfasst. Dies lässt tief in die Seele der Künstlerin blicken, denn es fällt auf, dass sich zwar die Anzahl der offensichtlichen Albträume in Grenzen hält, was für ein ausgeglichenes Gemüt sprechen könnte; indes gilt es die putzige Oberfläche vieler Traumzeichnungen mit Bezug auf eine latente albtraumhaftigkeit zu durchleuchten. So ist der öffentliche Seelen-Exhibitionismus intimster Geheimnisse (jeder Traum ein Mythos) nicht zu unterschätzen in ihrer Radikalität. Abgesehen davon beschäftigt sich die Künstlerin immer wieder in Videos und Performances mit essentiellen Elementen des Lebens von Künstlerinnen und Künstlern. Sie wird zum Winterrundgang der Leipziger Spinnerei Galerien eine Performance geben mit dem vielversprechenden Titel: Send your artist statement!
Die koreanische Künstlerin Koon Kwon hat an der Frankfurter Hochschule für Bildende Künste–Städelschule bei Prof. Tobias Rehberger studiert und behauptet letztes Jahr von der Mond- auf die Sonnenseite gewechselt zu sein. Können wir dies in den Kunstwerken erspüren? Was bezweckt eine Künstlerin mit expliziten Bezügen zu Gestirnen, Planetenkonstellationen und mystischen Einflüssen auf das eigene Leben? Der Volksmund hat dies früher mit dem Glauben an Horoskopen subsumiert. Koons Kunst ist verflochten mit dem Leben der Künstlerin, die sich vom Mond oder der Sonne leiten lässt und dabei bewusst das Rationale ad acta gelegt hat – zumindest was die Kunstproduktion angeht. Die Künstlerin Marie Meyer studierte Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen und ist Mitglied der weltweit aktiven Künstlergruppe Frankfurter Hauptschule, die mit medienwirksamen Interventionen die Presselandschaft bespielt. Sie weiß also wie Inszenierung geht. Wenn Marie Meyer behauptet, ihre ausgestellte Installation Pattern No. 1 sei eine rein formale Arbeit und der visuelle Effekt stehe im Fokus, stimmt das? Ging da nicht vielleicht doch ein Kindheitstraum in Erfüllung, unzählige schleich®- Figuren zu besitzen? Sind die streng arrangierten heimischen Wald- und Wiesentiere gar als eine Auseinandersetzung mit der deutschen Mittelschicht oder einen Kommentar auf den spürbaren Rechtsruck im Land zu verstehen?
Der Künstler Nikolas Müller hat seit seinen Teenagerjahren signifikante Probleme mit seinem Gehirn und seiner Seele. Mehr noch als die meisten anderen Menschen auf dieser Welt muss er sich selbst beobachten, analysieren und zeitig Maßnahmen ergreifen, um gesund zu bleiben. Er ist begnadeter Aquarellist, 3D Designer, Zuhörer und seit kurzem Vater. Der Drache als Plüschtier ist für ihn aus familiengeschichtlichen und biographischen Gründen immens aufgeladen, so dass er dieses Motiv als Aquarell und 3D Rendering für das Ausstellungsplakat kongenial verarbeitet hat. Noch zu Zeiten seines Studiums an der Frankfurter Hochschule für Bildende Künste–Städelschule hat sich der Künstler Michael Riedel eine Tüte über den Kopf gezogen und sich innerhalb einer offiziell anmutenden Vortragssituation als Michael S. Riedel selbst exponiert. Er hat sich also selbst materialisiert und hatte die hellseherische Gabe dies so zu dokumentieren, dass dieser Sprech- und Bildakt eine große Signifikanz in seinem Leben bekommen konnte. Eine selbst herbeigeführte Zäsur; dem Flugzeugabschuss von Joseph Beuys nicht unähnlich. Einige Jahre später hat der Künstler das S. seines Namens an eine Sammlerin verkauft, so dass er seither als Michael Riedel firmiert. In großen Schritten wird der Parkour des Lebens weiter begangen: von dem Titelbild für das Magazin Wallpaper* in 2014 bis zum Packpapier für die Ausstellungsplakate seiner großen Einzelausstellung ˈzɛlpstbəˈʃʁaɪ ̯ bʊŋ im Leipziger Museum der bildenden Künste (MdbK) in 2019, zwei Jahre nachdem er an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) zum Professor für Malerei und Grafik berufen wurde.
Der Künstler René Schohe hat an der Frankfurter Hochschule für Bildende Künste–Städelschule bei Prof. Christa Näher studiert und sich irgendwann danach entschieden sich niemals an irgendwelche Normen des Kunstsystems anzupassen. Er kreiert zu hundert Prozent sein eigenes System und transformiert ganze Welten mit seiner Kunst. Untergrundwelten und Subkulturen von denen die meisten Menschen nur Geschichten aus dem Fernsehen (sorry, Internet) gehört haben. Der größte Trick mit dem Schohe operiert, bezieht sich auf die Tatsache, dass er mit Menschen auf den oberen Ebenen als bildender Künstler zu tun hat, dies vermitteln und kommunizieren kann und deswegen in der Lage ist wieder herauszukommen. Für die vorliegende Ausstellung hat er eigens zwei neue Gemälde geschaffen, die seine ausgeprägte Rekalzitranz auf eine exzellente Art und Weise darstellen. Die russische Künstlerin Natalia Shumskaya verfällt beim Weben ihrer Gobelins in einen tranceartigen Zustand, der an schamanische Rituale erinnert. Indem sie eine tiefe Verbindung zur jenseitigen Welt eingeht und als Brücke zwischen den Welten wirkt, erschafft sie ihre Teppiche in einem ununterbrochenen Schaffensfluss. Wie das eine mit dem anderen verwoben oder verbunden ist, bleibt der Interpretation des Betrachters überlassen. Ihr bevorzugter Ausstellungsort für ihre Werke ist ein Birkenwald in Russland – doch für uns macht sie eine Ausnahme. Der Künstler Nicholas Warburg tut so, als ob er in Kalifornien und an der Frankfurter Hochschule für Bildende Künste–Städelschule studiert hat und er tut so, als ob ihm die Geschichte der politischen Lage in Deutschland am Herzen liegt und gießt dies in die Form seiner Kunstwerke. Haben wir das alles verifiziert? Er behauptet auch Gründungsmitglied der berühmt berüchtigten Künstlergruppe Frankfurter Hauptschule und darüber hinaus ein entfernter Verwandter vom ehemaligen Enfant Terrible der deutschsprachigen Kunst- und Theaterwelt Christoph Schlingensief (hochverehrt) gewesen zu sein. Als kleiner Junge hat er die Filme von Rainer Werner Fassbinder auswendig gelernt und seinen genervten Eltern Wort für Wort rezitiert. Das Gemälde von Warburg in der Ausstellung stellt daher Fassbinder dar, ist im Stile Gerhard Richters gemalt und hat den Titel DEUTSCHLAND IM HERBST.
Il-Jin Atem Choi, 2024